Seide kann auch anders

Es gibt einige Materialien, bei denen eine halbwegs erfahrene Strickerin auf der Hut ist. Dazu gehören weiche, glatte Garne wie Merinowolle, Viskose oder Maulbeerseide.

Viskose hat die eigentümliche Angewohnheit, sich beim Tragen stark in die Länge zu dehnen, nicht zuletzt wegen ihres beachtlichen Gewichts, und in der Wäsche wieder auf Normalmaß zu schrumpfen. Merinowolle ist heutzutage so weich und glatt, dass die Fasern bei passender Gelegenheit widerstandslos aneinander vorbei rutschen. Ein ursprünglich gut passendes Strickteil mutiert spätestens nach der ersten Wäsche zu einem formlosen Sack. Bei Maulbeerseide kann einem leicht etwas Ähnliches passieren. Deshalb ist es so wichtig, eine Maschenprobe nicht nur anzufertigen, sondern sie auch genau so zu waschen und zu trocknen, wie man später das fertige Modell waschen will. Erst dann kann man sicher sein, dass sich die Probe einigermaßen zuverlässig ausmessen lässt. Überraschungen sind trotzdem nicht völlig ausgeschlossen, weil ein großes Teil sich mitunter anders verhält als eine kleine Probe. Aber immerhin hat die vorsichtige Strickerin ihr Möglichstes getan.

Als ich kürzlich die Qualität „Bora“, eine Bouretteseide von der Wollerey, verarbeiten wollte, machte ich selbstverständlich ebenfalls eine Strick- und Waschprobe. Allerdings dehnte sich das Gestrick nicht, sondern es wurde kleiner. Bouretteseide hat keine glatte Oberfläche, sondern ist etwas rau mit kleinen Unebenheiten, dadurch können sich die Fasern quasi aneinander festhalten. Damit das Ganze nicht zu steif wurde, verarbeitete ich es auch etwas lockerer, als die Lauflänge von 600 m auf 100 g es nahelegen würde: Ich wählte Maschenweite 6 auf meiner Brother Strickmaschine. Nach der Wäsche und liegendem Trocknen an der Luft maß ich 34 Maschen und 46 Reihen auf 10 cm. Das ist schon sehr kompakt für diese Einstellung. Zum Vergleich: Wenn ich Sockenwolle (420 m auf 100 g) mit derselben Einstellung verstricke und nach der Wäsche messe, komme ich auf ziemlich genau 30 Maschen und 40 Reihen.

Als der Pulli dann fertig gestrickt, mit sämtlichen Blenden und Bündchen versehen und zusammengenäht war, kam er mir ziemlich groß vor, und bei der ersten Anprobe saß er auch sehr schlabbrig. Aber nach dem Waschen und Trocknen war alles gut: Perfekte Länge, perfekter Sitz. Lediglich bei den Armlochblenden hätten es ein paar Maschen weniger sein dürfen, vielleicht 160 statt 168. Das ist aber nicht weiter tragisch, denn ich werde den Pulli hauptsächlich über T-Shirts tragen.

Auf der Schneiderpuppe sieht er ziemlich locker aus, aber die Puppe ist schlanker als ich, und sie trägt ihn ja auch nur fürs Foto. 🙂

Vor dem Waschen schrägelte das Gestrick teilweise noch recht stark. Nach dem Trocknen war es deutlich weniger geworden. Mit ein paar beherzten Dampfstößen aus dem Bügeleisen brachte ich es letztlich weitgehend auf Linie. Bouretteseide zählt zu den robusteren Naturfasern und nimmt so eine Behandlung nicht übel.

Verbraucht habe ich etwa 60 g „Bora“ in Natur, je ca. 55 g in Hellrot und Grasgrün und etwa 45 g in Orangegelb.

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