Stricken und Mathe

Stricken und Rechnen gehören für mich zusammen. Es ist nur bedingt und nur mit viel Versuch und Irrtum möglich, gut passende Jacken oder Pullover selbst zu entwickeln, wenn man nicht bereit ist, sich mit ein wenig Algebra oder wenigstens den Grundrechenarten und dem Dreisatz auseinanderzusetzen. (Die Naturbegabungen, die mit weitgehend der selben Nadelstärke immer den gleichen Typ Raglan von oben stricken, lassen wir für den Moment mal außen vor.) Außerdem finde ich es hilfreich, auch bei fertigen Anleitungen die Maschen- und Reihenzahlen mal auf Plausibilität zu prüfen und gegebenenfalls an die Maße des zukünftigen Benutzers anzupassen.

Wenn Mathematik fürs Stricken wichtig ist, sollte man meinen, dass mathematische Gesetze beim Stricken uneingeschränkt Gültigkeit haben. Aber wie ich im Strickforum wieder einmal lesen konnte, gilt das nur bedingt. In einer handelsüblichen Anleitung heißt es beispielsweise (ich zitiere aus dem Forumsbeitrag):
39 Maschen anschlagen. Für die Ärmelschrägung in jeder 8. Reihe beidseitig 12×1 Masche und dann in jeder 6. Reihe 2×1 Masche zunehmen = 67 Maschen.
Nehmen wir daraus den Term “12×1 Masche”. Mathematisch gesehen sollte man darauf das Kommutativgesetz anwenden können, so dass das Ergebnis für “12×1 Masche” dasselbe wäre wie das für “1×12 Maschen”. Tatsächlich funktioniert das aber beim Stricken nicht.

12×1 Masche bedeutet nämlich: Es wird zwölfmal zugenommen, jedes Mal eine Masche. Zwischen den Zunahmen liegt ein Abstand von x Reihen, wobei x größer oder gleich 1 ist. (Im obigen Beispiel ist x = 8.)
1×12 Maschen hingegen bedeutet: Es wird einmal zugenommen, und zwar zwölf Maschen; weitere Zunahmen innerhalb derselben Operationsfolge gibt es nicht, sonst hieße es nicht “1x”. Obwohl die Maschenzahl am Ende der jeweiligen Operationsfolge dieselbe wäre, wäre die beim Stricken erzielte Form eine andere.

Es gibt Strick-Anfänger, die begreifen so etwas sofort und intuitiv. Manche hingegen haben offenbar mit derart verkürzten Anweisungen ihre liebe Not. Leider weiß ich nicht, wie man ihnen beim Verstehen solcher Anweisungen helfen kann, außer die Geschichte reihenweise aufzudröseln. Das erzeugt dann Anleitungsungetüme wie:

Reihe 8: Eine Masche zunehmen;
Reihe 16: Eine Masche zunehmen;

Reihe 96: Eine Masche zunehmen; insgesamt wurde nun zwölfmal eine Masche zugenommen.

Bleibt nur die Hoffnung, dass es irgendwann “klick” macht und besagte Anfänger so etwas nicht nur korrekt nacharbeiten, sondern auch das Prinzip einer solchen Formgebung nachvollziehen können. Hohe Kunst ist dann irgendwann der Schritt in die dritte Dimension, wenn nicht nur am Rand, sondern auch mitten im Strickstück allerlei Manipulationen vorgenommen werden und aus ursprünglich geraden Reihen und Maschensäulen Rundungen aller Art entstehen.

3 Gedanken zu „Stricken und Mathe“

  1. Ich wundere mich so manches Mal über die Interpretationen von Strickenden.
    Wie haben wir das früher gemacht, wo die Anleitungen auf 1/3 Spalte in einem Strickheft eingedampft waren?
    Helfen beim Verstehen:
    Ich skizziere eine Anleitung immer nach. Da fällt dann gleich auf, ob die eigene Überlegung plausibel ist oder nicht.
    Bleiben wie beim Beispiel “in jeder 8. Reihe beidseitig 12x1M zunehmen”.
    Würde ich in jeder 8. Reihe 12 Maschen zunehmen (wie oft?), hätte ich x-mal 12 Maschen zugenommen zuzüglich 39 Anfangs-Maschen, was bei einer geschätzten Maschenprobe von 20Maschen/10cm eine Ärmelweite von fast 70cm ergäbe, würde man die Prozedur 8mal durchführen. Das sollte einen stutzig machen. Zumal, wenn eine Schnittzeichnung mit Bemaßung zur Hand ist.

    Ich sehe ein, das Strickanfängerinnen sich erst einmal mit den Basics vertraut machen müssen. Dazu zählt nach meiner Auffassung, dass sie den Anleitungen nicht blind vertrauen, dass die Anleitungen erst einmal im Gesamten durchgelesen werden, und dass die Schritte dann vor Beginn in eigenen Worten oder Begrifflichkeiten nachvollzogen werden können.
    Zugegeben: manche Anleitungen sind so verquast, dass sie auch von erfahrenen Strickerinnen nicht auf Anhieb nachvollzogen werden können.

    Und bei Anleitungen, die jede Banalität in aller Ausführlichkeit beschreiben, mache ich das auch nicht gern. Da wünsche ich mir gern ein “Advanced Knitters Summary”. Oder deutsch: Zusammenfassung für die erfahrenen Strickerinnen.

  2. Hallo Michaela, Du schreibst:
    “Wie haben wir das früher gemacht, wo die Anleitungen auf 1/3 Spalte in einem Strickheft eingedampft waren?”
    Früher hat man sorgfältiger gelesen. Gerade weil weniger Redundanz vorhanden war, war jedes Wort und jede Abkürzung wichtig. Heute überfliegt man nur die ersten drei Sätze (wenn überhaupt) und erwartet, dass der Rest vollautomagisch geschieht.
    Trauriges Beispiel: Forumsmitglieder, die ihr Passwort vergessen haben. Auf der Login-Seite befindet sich direkt unter den Eingabefeldern ein Link “Ich habe mein Passwort vergessen”. Der wird aber oft gar nicht wahrgenommen; stattdessen schreibt man gleich eine Mail an Admin. Und wenn schließlich doch ein neues Passwort angefordert wurde, lesen viele nur die ersten drei Zeilen der resultierenden Bestätigungsmail und übersehen dabei, dass weiter unten in der Mail ein Link ist, der angeklickt werden muss, um die Passwort-Änderung zu bestätigen.
    Wer lesen kann und das auch tut, ist klar im Vorteil. Aber generell scheint Lesekompetenz immer rarer zu werden.

  3. Ja, die Aufmerksamkeitsspanne ist anscheinend auf die drei Zeilen reduziert, die man auf den ersten Blick im Handy oder Smartphone erkennen kann.

    Ich nehme auch eine Anspruchshaltung insofern wahr, dass relative Anfängerinnen erwarten, sie seien nach einem Schal oder einem anderen schlichten Strickstück imstande, einen komplexen Pulli nachzustricken.
    Dazu soll aber dann bittesehr die Anleitung auch so ausführlich sein, dass man sie praktisch Masche für Masche ohne eigene Denkleistung nachvollziehen kann.
    Dumm nur, dass dies in einer Fülle von Text resultiert, für den man doch viel Aufmerksamkeit benötigt, so viel, dass einem das Lesen desselben ganz schnell verleidet.

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