„Strick doch die nächste Größe“

Dieser Tipp ist für manche Strickerinnen offenbar die ultimative und oft auch einzige Lösung, wenn die eigene Maschenprobe nicht mit der des ursprünglichen Modells übereinstimmt. Dass man auf Basis der eigenen Maschenprobe eine Anleitung nicht nur umrechnen, sondern auch an die tatsächlich benötigten Maße anpassen kann, kommt ihnen gar nicht in den Sinn.

Besonders verbreitet scheint dieses Denken bei denen zu sein, die am liebsten alles nahtlos und in einem Stück anfertigen. Bei genauerem Nachdenken ist das nicht verwunderlich. Diese Erkenntnis kam mir, nachdem ich vorgestern abend an einem (Achtung, Werbung!) kostenlosen Webinar über Zeichnen von Simone Abelmann teilgenommen hatte. Dabei ging es speziell um Sketchnotes, was ich, ehrlich gesagt, weder besonders interessant noch für mich relevant finde. Was es dennoch so erkenntnisreich für mich machte: Ein wesentlicher Bestandteil davon ist Vereinfachung, in diesem Fall der gezeichneten Formen. Vereinfachung ist aber auch der Schlüssel für viele andere kreative Bereiche, unter anderem fürs passgenaue Stricken von Kleidungsstücken.
Wie bitte?! Jawoll. Genau.

Wer Pullover und Jacken nahtlos und in einem Stück strickt, für den sind die Anleitung und das Gestrick ein mehr oder weniger monolithischer Block. Es ist oft schwierig, so ein Projekt für sich in einfachere Formen beziehungsweise Flächen zu zerlegen, die man im Bedarfsfall berechnen könnte. Wenn die Maße und die Maschenprobe einigermaßen passen, besteht ja auch gar keine Veranlassung zu derlei geistiger Gymnastik. Wenn aber die eigenen Maße und/oder die eigene Strickprobe nicht zur Anleitung passen, dann hat die „monolithische“ Strickerin praktisch nur die Möglichkeit, zur nächstgrößeren oder -kleineren Größe zu wechseln und das Beste zu hoffen.

Als ich 1982 mehr oder weniger ernsthaft mit dem Stricken anfing (die Grundlagen hatte ich schon als Kind gelernt), gab es kaum Computer, noch kein Internet und praktisch keine Anleitungen für nahtlos gestrickte Kleidung.

Handelsübliche Zeitschriften mit Anleitungen enthielten bemaßte Schnittzeichnungen wie die hier gezeigte.
Ich habe beim Scannen ein Lineal dazugelegt, damit ihr seht, wie klein und dennoch ausreichend diese Abbildungen sind.
Bildquelle: Constanze Strickmode Heft SH 1/84, Verlag Gruner & Jahr 1984, Ausschnitt aus dem Anleitungseinhefter S. 8.

Schnittschema

Durch die Darstellung von Flächen und einfachen Formen erschließt sich einem nicht nur auf den ersten Blick der Aufbau des Modells aus Einzelteilen. Die Maßangaben erlauben es auch, die Dimensionen des Pullis an eigene Vorlieben anzupassen, und die ursprüngliche oder angepasste Form lässt sich mit praktisch jeder Maschenprobe umsetzen. Man könnte das Modell sogar in ein mehr oder weniger nahtloses, „monolithisches“ umwandeln, wenn man denn unbedingt wollte. Alle Anpassungen und Berechnungen müsste man natürlich vornehmen, solange man es noch mit einfachen Flächen zu tun hat.

Was ich damit klarmachen will: Einfache Formen bzw. Flächen anzupassen und zu berechnen ist unproblematisch. Schwierig bis unmöglich wird es erst, wenn die Designer uns von der scheinbaren Mühe des Zusammenfügens befreien und uns damit zum Teil auch den Blick auf den Aufbau eines Modells (quasi aus „Flächen“) verwehren.

Da ich bei meinen Strick-Anfängen nur mit Flächen zu tun hatte und weil die Menschen, für die ich strickte, fast nie Standardmaße hatten, wurde mir das Anpassen und Umrechnen zur Gewohnheit. Und noch heute schrecke ich vor Anleitungen zurück, die „nahtlos“ daherkommen und deren Endmaße nicht vorab präzise überprüfbar, anpassbar und berechenbar sind. Ich mag nicht auf gut Glück ins Blaue hinein stricken, wenn es möglich ist, vorab genau zu planen.

Allen, die noch mehr Nutzen aus Lisbeths fabelhaftem Lehrgang ziehen wollen, empfehle ich, ihre Strickprojekte dafür als erstes auf möglichst einfache Flächen zu reduzieren. Das geht teilweise auch bei rund und quasi „nahtlos“ gestrickten Modellen, ist aber mühsamer und erfordert ein gewisses Abstraktionsvermögen.

Ein Gedanke zu „„Strick doch die nächste Größe““

  1. Liebe Kerstin, ich gestehe hiermit, dass ich selbst zu denjenigen gehöre, die gerne mal „einfach die nächste Größe“ zugrundelegen, wenn die Maschenprobe nicht genau zur Anleitung passt.
    Es ist m.M.n. jedenfalls der bessere Weg, als einfach die nächstgrößere oder -kleinere Nadelstärke zu nehmen, wie manchmal auch empfohlen wird.
    Das Umrechnen ist leicht zu meistern, wenn die Schnittform so einfach ist, wie es in den Achtzigerjahren üblich war. ich sehe das selbst bei meinen alten Constanze-Heften. So schön die Vielfalt an Mustern in diesen Heften ist, so extrem simpel ist meistens der Schnitt der Strickteile. Selbst Schulterschrägen sind nicht immer vorgesehen.
    Aber in modernen Strickanleitungen hat man es oft mit mehreren kurvigen Teilen zu tun, gerne auch mal in unterschiedliche Richtungen gestrickt, oft asymmetrisch – und besonders lecker sind natürlich Strickanleitungen ganz ohne bemaßte Schnittzeichnung, wie Du auch schreibst. Wenn dann auch noch die eigentliche Strickanleitung wie ein Roman formuliert ist, so dass man in den „Reihe für Reihe“-Anweisungen die Angaben zu Weite und Länge mit der Lupe suchen muss, kann der Strickerin die Lust aufs Umrechnen vergehen.
    Was für ein Glück, dass Gestricktes elastisch ist …
    Augenrollende Grüße von Anna

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