Überraschung

Stell dir einmal folgendes Szenario vor:
Eine Freundin besucht dich, betrachtet angelegentlich deine Diele und meint, dass die mal wieder einen neuen Anstrich vertragen könne. Sie ist handwerklich begabt, renoviert gern und schlägt vor, dir die Diele zu streichen, während du übers Wochenende verreist bist. Du freust dich über die Idee und stimmst zu. Du möchtest dann gern in der Diele ein paar Bilder aufhängen und hättest deshalb gern alle Wände weiß gestrichen. Kein Problem, sagt die Freundin, das geht flott und macht keine Mühe.
Einige Wochen später ist der große Termin. Du kommst am Sonntagabend von einer schönen Wochenendreise zurück und freust dich schon auf die frisch geweißte Diele. Du öffnest die Tür. Deine Freundin steht dort, sie hat noch den Pinsel in der Hand, ist hocherfreut über dein Kommen und ganz aufgeregt.
Auf den Wänden deiner Diele befindet sich ein ganzes Panorama. Deine Freundin hat eine wunderschöne, aufwendige toskanische Landschaft gepinselt. Sie hat sich riesige Mühe gegeben und ist sicher, dass es dir gefällt. Einfach nur alles weiß zu streichen, erklärt sie, war so langweilig. Und außerdem warst du schon öfter in Italien im Urlaub, und die Landschaft hat dir gut gefallen. Du magst italienische Küche, und die warmen freundlichen Farben, die sie verwendet hat, versetzen garantiert jeden in gute Stimmung.
Du verabscheust Landschaften an den Wänden. Du wolltest die Wände weiß haben und sonst gar nichts. Du schluckst. Du weißt nicht, ob du lachen oder weinen sollst. Du willst sie nicht verletzen. Also bedankst du dich erst einmal herzlich für all die Mühe, die sie sich gemacht hat, bevor du sie nach Hause schickst. Im Geiste berechnest du, was es kosten wird, die Diele von einem Maler streichen zu lassen. Und du weißt, dass du nie wieder Unterstützung beim Renovieren von ihr erbitten oder akzeptieren wirst.

Unrealistisch? Nun ja. Ersetze jetzt mal die Freundin durch dich selbst, dich selbst durch deinen Mann/Freund/Bruder/Vater/Sohn/Schwager/Neffen und die Diele durch einen neuen Pullover, den du besagtem männlichen Wesen zu stricken anbietest. Mann/Freund/Bruder/Vater/Schwager/Neffe hat klare Vorstellungen davon: Rippenmuster in Marineblau und ein runder Ausschnitt. Das anzufertigen ist überhaupt kein Problem für dich, du machst dich sofort ans Stricken.
Aber schon bei der Maschenprobe merkst du: Rippenmuster in Marineblau ist dir zu öd und zu dunkel. Also stellst du um auf, sagen wir mal, eine Lusekofte-Variante in Graublau mit Natur, mit einem dezenten Norwegermuster und Reißverschluss am Hals. Das ist sowieso praktischer. Und schöner findest du das Ganze auch. Es ist zwar etwas mühsamer, aber ER ist dir das wert. Außerdem hat er schon mal Urlaub in Norwegen gemacht und isst gern norwegischen Räucherlachs.
Der Tag der Präsentation ist gekommen. Du legst ihm das einmalig schöne Modell hin. Und ER? Er schaut es leicht entsetzt an und ist überhaupt nicht so begeistert, wie du dir das vorgestellt hattest. Wahrscheinlich überlegt er, was ein schlichter marineblauer Rippenpullover im Laden kostet.
Erwarte nicht, dass er jemals wieder etwas von dir gestrickt haben möchte.

2 Gedanken zu „Überraschung“

  1. Gute Geschichte und du hast Recht, so hab ich das noch nie bedacht. Zum Glück sitzt mein Liebster neben mir und hat “seinen” Pullover ständig im Blick. Er hat auch das Muster, die Machart und die Wolle (mit-) ausgesucht.
    Trotzdem für den Tip,

  2. Ich habe es nie vermocht, meiner inzwischen längst verstorbenen ersten Schwiegermama ehrlich zu sagen,was ich von ihren gestrickten und genähten Kindersachen hielt (immer Ringel-Reste-Raglanpullis und grässliche Farben samt nicht passender Schnitte). Ich wollte sie einfach nicht verletzen, weil ich sie sehr mochte und sie immer so begeistert war, mir wieder was mitbringen zu können.
    Ich habe aber draus gelernt: die Fabrikate, die mein Haus in Richtung Tochterhaushalt für die Enkelkinder verlassen, sind ausnahmslos exakt geplante und ins kleinste Dateil besprochene Projekte. Ist zwar von meiner Seite nicht so kreativ, erspart uns beiden aber das schmerzhafte Eingangsszenario.Ich vermesse auch meine Enkelkinder bei jedem neuen Teil neu und so weiß ich auch, daß mein Aufwand nicht umsonst ist.

    Liebe grüsse
    Sabine

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