Warum, um alles in der Welt?

Über Jahrhunderte hat man Strickkleidung am „einfachen“ Ende begonnen und sich langsam zum komplizierteren Teil vor- und hochgearbeitet. Das galt für Pullover ebenso wie für, sagen wir mal, Fingerhandschuhe. Niemand wäre auf die Idee gekommen, einen Handschuh am Zeigefinger zu beginnen, um ihn besser anprobieren zu können.

Aus meiner Sicht ist das Vorgehen von einfach zu komplex auch die sinnvollste Methode, einem Anfänger den Aufbau und die Struktur eines wie auch immer gearteten Strickstücks nahezubringen. Leider ist es aus der Mode gekommen. Strickdesigner|innen übertreffen sich darin, ihre Entwürfe grundsätzlich von oben nach unten stricken zu lassen, weil das angeblich sooo viel einfacher ist.

Ich wage zu widersprechen. In vielen Fällen ist das Stricken von oben nach unten so sinnvoll wie das Füllen einer Schwarzwälder Kirschtorte, bevor der Teig gebacken ist, oder der Einbau von Dachflächenfenstern gleich nach Fertigstellung des Kellergeschosses. Im Bereich um Schultern und Halsausschnitt eines Pullovers oder einer Jacke spielt sich die wichtigste Formgebung ab. Und damit man sich dabei nicht vertut, sollte man jederzeit überblicken, an welcher Stelle des Projekts man sich gerade befindet. Dieser Überblick ist jedoch umso schwieriger, je weniger vom Strickstück bisher vorhanden ist. Wie bei einem Puzzle erfasst man das Gesamtbild besser, wenn schon möglichst viel „Masse“ existiert, die einem die Orientierung erleichtert.

Nicht nur Strick-Anfänger|innen, sondern auch Menschen mit wenig räumlichem Vorstellungsvermögen können schon zu Anfang ihres ach so einfachen Top-Down-Modells quasi falsch abbiegen, weil sie einen Satz in der Anleitung missverstehen. Beginnt man hingegen von unten mit dem Stricken, ruhig in Runden, um sich das Zusammennähen zu ersparen, dann ist die Gefahr dafür deutlich geringer. Spätestens bei den Markierungen oder Abnahmen für die Armlöcher ist die zukünftige Form nämlich schon gut erkennbar. Wer so weit gekommen ist, platziert das Halsloch nicht versehentlich auf der rechten Schulter.

Eines der angeblich schlagendsten Argumente für das Stricken von oben ist die Möglichkeit, Pulli oder Jacke zwischendurch anzuprobieren. Aber mal ehrlich, wie oft zieht ihr die Maschen auf eine längere Nadel, um euch das Strickzeug probeweise über den Kopf zu stülpen? Und selbst wenn man feststellt, dass der Pullover irgendwie, irgendwo unbequem ist, erkennt man nur selten, wo man ansetzen müsste, um die Passform auf die Schnelle zu verbessern.

Als weiteres Killer-Argument für top-down wird gern das Vermeiden von Nähten genannt. Aber erstens ist das Zusammennähen nach meiner Erfahrung ziemlich einfach, zweitens können Nähte einem gestrickten Kleidungsstück mehr Stabilität geben, und drittens kann man auch beim Stricken von unten einen großen Teil nahtlos arbeiten.

Wenn ihr gute Erfahrungen mit von oben gestrickten Modellen gemacht habt, will ich euch dieses Vorgehen nicht ausreden. Wer aber schon öfter über mistverständliche Anweisungen zur Schulter-Region gestolpert ist oder auch nach dem dritten Neustart noch keinen brauchbaren Halsausschnitt zuwege gebracht hat, dem möchte ich unverbindlich nahelegen, es doch mal mit dem althergebrachten Stricken von unten zu versuchen. Wenn man bereits etwas Substanzielles in den Händen hält, ist es im allgemeinen einfacher, sich den Verlauf eines Ausschnitts oder einer Schulterschrägung vorzustellen. Und dem fertigen Modell wird man ohnehin nur bei allergenauestem Hinschauen ansehen, in welcher Richtung es gestrickt wurde.

4 Gedanken zu „Warum, um alles in der Welt?“

  1. Gut auf den Punkt gebracht!
    Nähte können einem Strickstück oft den finalen „Pfiff“ geben und stabilisieren in der Tat außerdem.
    Da ist allerdings es wichtig, wie die Ränder genau gestrickt werden, und dazu hast Du, nach Elizabeth Zimmermann, bereits Entscheidendes geschrieben.

  2. Naja, du weißt ja, dass ich hier reagieren MUSS 😉
    Ich stricke gern von oben. Und diese Woche war ich auch richtig froh darüber – so kann ich relativ einfach zwei Strickstücke aus den Jahren 2012 bzw. 2016 umarbeiten, um sie an meine gewachsenen Hüften anzupassen. Wären das Teile gewesen, die ich von unten gestrickt hatte – ich wäre das nie angegangen.
    Und du wirst es nicht glauben, ich probiere tatsächlich oft an während des Strickens.
    Wenn ich für andere stricke, ist das auch oft von unten, fällt mir gerade beim nachdenken darüber ein.

  3. Ich bin keine ausschließliche Von-Oben-Strickerin. Man muss nicht zwanghaft jede Form umkonstuieren. Aber ich trage gern Raglans, da bietet sich das Stricken von oben an. Und zwei Vorteile fallen mir auf die Schnelle schon noch ein:
    1) Man hat einen sauberen Kragenabschluss. Das nachträgliche Aufnehmen aus abgeketteten Maschen aus der Schräge führt gern mal zu Löchern. Die Sorge hat man hier nicht.
    2) Man erhält einen unschlagbar sauberen Ärmelanschluss. Wer noch nichteinmal beim späteren Einnähen der Ärmel verzweifelt ist, möge die Hand heben …

    Die Sache mit der Anprobe finde ich auch überbewertet: Reinschlüpfen kann ich genauso, wenn von unten gestrickt wird.

    LG Ute

  4. Dann oute ich mich mal: ich stricke am liebsten von unten nach oben, und zwar in Einzelteilen. Selbst die Ärmel einzusetzen finde ich, wenn ich die Armkugel richtig gemacht habe, keine Herausforderung ( aber klar, als Anfängerin fand ich das auch doof). Blendenmaschen nehme ich mit einer ganz dünnen Nadel auf und stricke eine Reihe verschränkt, das verhindert Löcher ganz gut.
    Vorteil: Armelstricken, wenn man den ganzen Pullover, manchmal sogar 400 gr auf dem Schoss hat, ist anstrengend. Einzeln kein Problem.
    Zudem mag ich dünnes Garn. 280 oder 140 Maschen machen einen Unterschied.
    Und als letztes: zur Zeit stricke ich eine Jacke, bei der nur die Vorderteile ein kompliziertes Muster haben. Erst strickte ich das linke Vorderteil, dann das glatt rechts, also entspannte, Rückenteil. Entweder beginne ich nun einen Ärmel, entspannt, oder das rechte Vorderteil, kompliziert. Mitnahmetauglich ist aber an dieser Jacke(5Teile) also der größte Teil, an einem Stück wäre es unmöglich geworden.

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