Weshalb man Manöverkritik braucht

Neulich stieß ich auf ein Video von „The Woolly Worker“. Sie zeigt darin acht Kleidungsstücke, die sie im vergangenen Jahr gestrickt hat, aber nicht trägt. Sie erklärt auch, weshalb sie diese Sachen nicht bzw. nur ungern anzieht.

Mein erster Gedanke war: Was für eine Verschwendung von Geld und Zeit. Und der zweite: Mir ist so etwas auch schon passiert. Und der dritte: Sicherlich haben schon viele Strickende solche frustrierenden Erfahrungen gemacht. Deshalb wird es höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Fangen wir also an.

Wenn man feststellt, dass man ein bestimmtes Material, beispielsweise Mohair, nur sehr ungern trägt oder gar nicht auf der Haut verträgt, dann sollte einem das nicht erst nach drei Projekten auffallen. Man kann fast jedes Material durch ein anderes ersetzen. Will man sich exakt an eine Anleitung halten, dann müssen nur die Maschenproben übereinstimmen.

Modefarben sind unverbindliche Vorschläge. Sich blindlings an sie zu halten ist unsinnig. Erstens stehen den wenigsten Menschen alle denkbaren Farben, zweitens kann man an vielen Modefarben leider recht genau erkennen, wie alt ein Kleidungsstück ist. Wenn man lange an einem Modell strickt, will man es normalerweise auch lange nutzen. Dafür eignen sich am besten Farben, die einem gut stehen, in denen man sich wohl fühlt und die sich problemlos in die restliche eigene Garderobe integrieren lassen.

Beige bzw. Sand ist eine klassische Farbe, aber auch eine relativ problematische, die nicht jeder Frau steht. Man braucht schon ein gewisses Maß an Eigenfarben (Haut, Augen, Haar) oder ein geschicktes Make-up, um in Beige nicht völlig farblos zu erscheinen. Eine gute Farbberatung kann helfen, wenn man farblich immer wieder daneben greift. Oft genügt es auch schon, sich auf seinen Instinkt zu verlassen statt sich wechselnden Farbmoden zu unterwerfen. Ich habe mich schon als Kind in bestimmten Farben unbehaglich gefühlt, aber meine Lieblingsfarben waren nicht immer zu finden. Zudem kann man als Kind und Heranwachsende(r) ohne eigenes Einkommen nicht immer über die eigene Garderobe entscheiden.

Auch der Schnitt spielt eine Rolle. Taillenkurze Jacken und Pullover sehen vor allem an schlanken Personen gut aus. Wenn aber eine erkennbare Taille fehlt, wirken die Proportionen oft unausgeglichen. Es kann dann helfen, den Schnitt deutlich zu verlängern.
Man sollte auch nicht unterschätzen, dass bei Foto-Shootings häufig geschummelt wird. Sicherheitsnadeln gehören zur Standardausrüstung jedes Stylisten. Damit kann man für ein Foto notfalls auch einen Kartoffelsack in ein elegantes körpernahes Kleidungsstück verwandeln. Den Rest erledigt man mit Photoshop.
Und dann die Ausschnitte: Ein weiter Ausschnitt, dessen Kante gerade so eben auf den Schultern des Modelmädels sitzt, führt bei einer durchschnittlichen Strickerin gern zu einer, nennen wir es mal „Kleidungs-Dysfunktion“. Mit anderen Worten: Das Ding rutscht einer Normalperson zwangsläufig von den Schultern. Solche potenziellen Ärgernisse sollte man ebenfalls im Blick haben, um spätere Enttäuschungen zu vermeiden.

Auch wenn ein Strickmodell sich nach der Fertigstellung als weitgehend untragbar erweist, sollte man es erst verschenken oder entsorgen, wenn man daraus so viel Information wie möglich gezogen hat. Nichts bietet nämlich so viel Verbesserungspotenzial wie Fehler, die man gemacht hat. Schon 2010 schrieb ich dazu einen Text, den ich hier verlinke:
https://www.strickmoden.de/stricktipps/desaster.html

Hoffentlich helfen diese Überlegungen allen, die sich darüber ärgern, fast nie wirklich passende, kleidsame und tragbare Strickkleidung zustande zu bringen.

2 Gedanken zu „Weshalb man Manöverkritik braucht“

    1. Oh ja! In den 1980ern konnte man in jedem Wollgeschäft und bei jedem Versand Unmengen von Lila-, Pink- und Türkis-Schattierungen kaufen, aber nach warmen Farben suchte man vergeblich.

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